Kritische Beurtheilungen. Sophokles. Erklärt von F. W. Schneidewin. Erstes Bändchen. Aias. Philoktetes. Leipzig, Weidmann'sche Buchhandlung. 1849. VIII o. 214 S. 8. *). Die bis jetzt erschienenen Bearbeitungen des Sophokles, namentlich die von Brunck, Erfurdt, Hermann, Wunder, haben, jede in ihrer Weise, dazu beigetragen, das Verständniss des Dichters zu erleichtern, bald durch gründliche Interpretation, bald durch glückliche Emendation des Textes. Das Verfahren der beiden erstgenannten Kritiker war vorzugsweise ein grammatisches; für die Behandlung der lyrischen Partien gingen ihnen die nöthigen Kenntnisse ab; hierin war es erst Hermann und Dindorf beschieden, Licht und Ordnung zu schaffen, doch auch auf ihrem eigentlichen Felde wurden jene weit überholt von Lobeck, Hermann und Elmsley. Nach solchen Vorgängern hatte Wunder über eine beträchtliche Masse brauchbaren Stoffes zu verfügen, und man wird ihm das Lob, fleissig gesammelt, mit Sorgfalt gearbeitet und Manches scharfsinnig berichtigt zu haben, gern zuerkennen; die Brauchbarkeit seiner Ausgabe ergiebt sich uns schon aus ihrer starken Verbreitung, durch welche bereits drei Auflagen hervorgerufen worden sind. Störend ist aber bei dieser Bearbeitung die übergrosse Ausführlichkeit der Noten, das demungeachtet sehr häufige Verweisen auf Bemerkungen, die anderswo in der Ausgabe stehen, oder gar auf die Recension von Lobeck's Aias und die Emendationes in Sophoclis Trachinias, welche der Leser also mit in Kauf zu nehmen genöthigt wird; endlich ein zu deutliches Bestreben des Verf., sich als Kritiker geltend zu machen. Mit allen früheren Leistungen hat die sei *) Die Wichtigkeit der oben bezeichneten Bearbeitung des Sophokles dass wird die Red. dieser Jahrbb. gewiss vor ihren Lesern rechtfertigen, sie kein Bedenken getragen hat, von der bereits von einem andern würdigen Recensenten besprochenen Schrift noch eine andere Recension eines namhaften Gelehrten, die ihr später zugekommen ist, aufzunehmen. Anm. der Red. nige das gemein, dass sie nicht sowohl die unmittelbare Anschauung von der Grösse der poetischen Schöpfung giebt, als die äusseren Bedingungen, um zu jener Anschauung zu gelangen. Und hierin liegt der wesentliche Vorzug von Schneidewin's Werk, welches im Ganzen wie im Einzelnen einen neuen Weg einschlägt. Im Ganzen; da Welcker's Methode, die Fortbildung des Mythus vom Epos an zu verfolgen, mit Glück auf die vorliegenden Tragödien angewendet ist, wobei denn Manches hervortritt, was die Trefflichkeit der poetischen Erfindung in neues überraschendes Licht setzt; im Einzelnen, da überall das Dramatische und Charakteristische herausgehoben wird, wozu ein sicherer Ueberblick der Anlage und scharfes Auffassen des Sprachlichen gehörte, was sich nicht immer in einem Bearbeiter antiker Tragödien zusammenfindet. Es ist in der That Zeit daran zu erinnern, dass jene wohlgemeinte Geschäftigkeit vieler Lehrer und philologischen Schriftsteller, die immer nur Stoff aufhäuft, der classischen Litteratur unter Jung und Alt keine Freunde erwirbt, und wir stimmen von Herzen ein in die (p. V) des Vorworts gemachte Bemerkung:,,ist ein Gymnasiast nach langen mühevollen Jahren so weit vorgerückt, dass er unter verständiger Anleitung zum Sophokles Zutritt erlangt, so darf er auf etwas mehr Anspruch machen, als den Dichter als Beispielsammlung syntaktischer oder metrischer Regeln oder als Anknüpfungspunkt philologischer Gelehrsamkeit gemissbraucht zu schen." Darzuthun, was im Allgemeinen wie im Besonderen durch Schneidewin's Bearbeitung gewonnen ist, bezweckt unser Bericht; ergiebt sich dabei hie und da eine Differenz der Ansichten, so vermag diese doch unserer Ueberzeugung von der Trefflichkeit der Ausgabe keinen Abbruch zu thun. Ueber den Aias ist Schneidewin der Abhandlung Welcker's (vergl. Kleine Schriften zur Gr. Litteraturgeschichte II. 264355) in sehr vielen Punkten gefolgt, wie es auch kaum anders möglich war. Die Abweichungen davon betreffen theils das Scenische, worüber wir unten sprechen werden, theils die Auffassung von Aias' vorletzter Rede und die davon abhängende Beurtheilung des Streites, welcher sich zwischen Teucer und den Atriden über die Bestattung des Heros entspinnt. Was das Letztere betrifft, fühlen wir uns mehr durch Welcker's Ansicht befriedigt und sehen in dem exɛiv und 6έßɛiv gegen Götter und Oberherrn nicht wie Schneidewin Ironie; Aias weicht ja wirklich den Göttern und giebt sich als williges Opfer ihrem Zorne hin; er ehrt die Atriden, in sofern er durch Selbstentleibung ihnen Genugthuung gewährt. Ob Sophokles (668) hier an das Solonische αρχῶν ἄκουε καὶ δίκαια κἄδικα dachte, was in Antig. 666 allerdings der Fall gewesen zu sein scheint, dürfte noch sehr die Frage sein, wo ein ungerechtes Urtheil nach dem Dafürhalten des Aias, aber kein ungerechter Befehl der Atriden zu Grunde liegt. Der Held empfindet das Unrecht auf ihrer Seite, doch verkennt er auch nicht den eigenen Fehler, dass er in seinem Hass zu weit ging und das Maass überschritt, welches die bestehenden Verhältnisse der Gesellschaft vorzeichnen; er erkennt ferner, dass er ein zu grosses Vertrauen auf menschliche Zuverlässigkeit und Beständigkeit setzte, sonst wäre er von dem Waffengericht nicht so empfindlich überrascht und dadurch zu überwallender Leidenschaft hingerissen worden. Diess Gefühl des Unrechts, mit welchem die zádapots im Gemüth des Helden vor sich geht, darf bei der Betrachtung der Tragödie nicht übersehen oder gar in Abrede gestellt werden. Teucer wird nun dadurch, dass ihm nicht vergönnt war, seinen Bruder noch bei Leben zu treffen, in die misslichste Lage gebracht: er vermag nicht die rechte Vertheidigung für ihn vorzubringen, da ihm unbekannt ist, dass jener mit dem Bekenntniss seines Vergehens gegen die Atriden, mit der Anerkennung derselben als der Heerführer, abgetreten ist, dass schon der Entschluss, durch seinen Tod das Missverhältniss aufzuheben und den Fehler abzubüssen, einer andern Behandlung ihn werth gemacht hat als scine Feinde ahnen, die in ihm nur den Staatsverbrecher, den Rebellen gegen die rechtmässige Gewalt sehen und dabei keine Milderungsgründe beachten. Unter diesen eigenthümlichen Umständen ist die Situation Teucer's, der das Gefühl hegt, den Bruder, welchem er im Leben nicht beistand, auch nach seinem Ende nicht genügend vertheidigen zu können, und für dieses nichtverschuldete Unvermögen den schlimmsten Empfang von Telamon erwarten muss, in hohem Grade tragisch; die Angriffe der Atriden aber, weit entfernt durch eine Bequemung an den Geschmack des Publicums, welches rhetorische Agonen der Art auf der Bühne verlangte, oder gar durch die ,,simplicitas argumenti" herbeigeführt zu sein, sind unentbehrlich, um jenes Gefühl hervorzurufen und in seiner ganzen Peinlichkeit darzustellen. Indem Teucer dem Aias die bestrittenen Todesehren zu erkämpfen sucht, macht er durch schwere und eigentlich unnachweisliche Vorwürfe gegen den Oberfeldherrn sich zum Mitschuldigen, alle seine Anstrengungen sind nur geeignet ihn von seinem Ziele noch weiter zu entfernen; ohne das Einschreiten des Odysseus, diess fühlt man, würde das empörende Urtheil gegen die Leiche ausgesprochen und auch ausgeführt werden. Bei näherer Betrachtung des Kampfes wird man bemerken, dass die Rede gegen Menelaus sich meistens an Unwesentliches hält, wie, dass Aias nicht dem Menelaus unterworfen gewesen und nicht gekommen sei, wie Andere, dessen Frau zu erstreiten. Nun sollte man glauben, er werde wenigstens Agamemnon's Verbot, als des Oberherrn, respectiren, wenn das Motiv der Widersetzlichkeit allein auf der Stellung des Befehlenden beruhen soll; aber Teucer lehnt auch die Auctorität Agamemnon's ab und kömmt daun gleich wieder darauf zurück, dass er dem jüngern Atriden nicht zu gehorchen gedenke (1109 sq.). Auch gegen Agamemnon selbst ist er in Betreff der Hauptfrage im Nachtheil, er übergeht sie daher mit gänzlichem Stillschweigen, da er in der That nichts gegen Agamemnon's Erklärung 1239-1249 einzuwenden weiss. Die Stärke dessen, was die Atriden vorbringen, gründet sich auf die Nothwendigkeit des Gehorsams, wenn der Staat bestehen soll; was sie sonst gegen die Person des Aias und des Teucer einwenden, ist die schwache Seite ihrer Reden; auf die Beleuchtung dieser beschränkt sich Teucer, er widerlegt nur, was gegen die Tapferkeit des Bruders und seine eigene Ignobilität gesagt worden ist; seine Reden sind juridiciales assumptivae gegen die absolutae der Widersacher. Was aber Agamemnon, nur um den Teucer herabzuwürdigen verlangt hat, dass nämlich ein Anderer für ihn spreche, der durch seine Geburt dazu berechtigt sei, erfüllt sich gegen sein Erwarten durch Odysseus. Dieser erscheint fast wie ein deus ex machina, den sonst für Teucer erfolglosen Streit dahin zu schlichten, dass dem Leichname die gebührende Ehre zu Theil wird; er vertritt gleichsam die Gottheit, deren Ansprache und ernste Lehre im Eingange des Drama's ihn über das Getriebe menschlicher Leidenschaft und Zwietracht erhoben hat. Ueber die Art ihrer Erscheinung differirten die Ansichten bisher sehr bedeutend. Athene war nach dem Dafürhalten der Einen ganz unsichtbar und bezeugte ihre Anwesenheit blos durch ihr qoέyua, nach Andern, wie z. B. Lobeck, sprach sie aus der Ferne zu Odysseus, wieder Andere liessen sie in der gcwöhnlichen Weise vom Theologeion herunter reden. Das würde zwar nicht, wie die vorher angegebenen Vorstellungen eine Anomalie gegen das Scenische sein, aber mit den Worten der Göttin selbst nicht übereinstimmen. Warum soll Athene ihrem Schützling nicht sichtbar nahe stehen? Man hat sich auf das xäv aлолτos s berufen, aber dabei die syntaktische Ausdrucksweise verkannt; jene Worte sind ohne Bezug auf das wirkliche Zusammentreffen ganz in allgemeinem Sinne gesprochen; Odysseus sagt damit nur:,,wärest du auch fern und dadurch meinem Auge entzogen, so würde ich doch deiner Stimme Laut erkennen." Es ist hier nicht gleichgültig, ob man dem Satze qávŋu' áxovo das õues zutheilt, oder der Parenthese xäv xtέ. In jenem Falle würde die eben abgelehnte Auffassung beibehalten und öuws axoú als Nachsatz der vorausgehenden Bedingung betrachtet werden, also das Fernstehen der Göttin doch behauptet: in diesem ist uns nur Verstärkung des allgemeinen auf die wirkliche Gegenwart nicht anwendbaren Ausspruches. Der Tekmessa blieb die Erscheinung der Gottheit dunkel, was daraus sich ergiebt, dass sie 301 von Aias erzählt: 6xia tivi λóyovs avέona, im Zelte sitzend konnte sie Athene nicht sehen, noch hören, wohl |