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Die Gegenwart.

Eine encyklopädische

Darstellung der neuesten Zeitgeschichte

für

alle Stände.

Siebenter Band.

Leipzig:
F. A. Brockhaus.

1852.

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Das neue deutsche Drama.

Gervinus und alle Gleichgesinnten, welche die deutsche Nationalliteratur mit Goethe und Schiller abschließen, und in den Bestrebungen der Epigonen nur Nachklänge unserer classischen Epoche oder verunglückte Neubildungen finden, werden auch dem Drama der Gegenwart jede Bedeutung absprechen. Wie dürfte auch unsere Zeit Dramen von Bedeutung produciren, nachdem Gervinus es ausgesprochen, daß der alleinige Beruf des deutschen Volks jest die Politik, die Wiedergeburt des Vaterlandes sei, nachdem er selbst sich diesem Beruf mit Begeisterung zugewandt? Höchstens dürfte die Muße der vielgequälten Staatsverbesserer in verschämter Einsamkeit sich an den ewigen Quellen der Classicität erquicken und die Büsten der marmornen Literatur öfter mit neuen Kränzen aufpuzen. So läßt denn auch Gervinus das Sturzbad der Shakspeare'schen Poesie durch ein feines kritisches Sieb hindurchsickern, indem er in vier starken Bänden den,, trunkenen Wilden" civilifirt, und in eleganter Neproduction seiner Dramen, in kritischen Gloffen und geschmackvollen Conjecturen, mit einer courfähigen Gelehrsamkeit, welche den Staub von den Folianten geblasen hat, noch einmal bis auf den Grund den Kelch der Shakspeare'schen Weisheit leert. Doch seit der stolzen Vorrede zur Shakspeare-Kritik des Gervinus, feit dem absoluten Veto, das sie gegen etwaige neue Dichtungsversuche eingelegt, ist die politische Bewegung, welche in den Händen der Gesinnungsgenossen des Literarhistorikers war, rettungslos gescheitert; und es dürfte wol jest, wenn man die Consequenz seiner Ansichten zicht, wieder die Stunde der bescheidenen poetischen Production geschlagen haben. Die Bewegung war gescheitert und mußte scheitern, bei so einseitiger Auffassung, welche sie bon dem ganzen geistigen Leben der Nation, das in der Kunst seine schönste Offenbarung und feinen wahren Cultus feiert, zu isoliren suchte;. sie mußte scheitern bei so geringer Kenntniß und Würdigung der Elemente, welche sie hervorgerufen. Denn wahrlich, nicht die Doctrinen des Katheders, sondern das ganze Zeitbewußtsein selbst, bas gerade von den jüngsten Richtungen der Kunst und Literatur getragen wurde, war der Grund, aus welchem die politische Bewegung auftauchte. Wie konnte aber ihr Proceß in allen Instanzen gewonnen werden, wenn Diejenigen, die sich zu ihren Advocaten machten, die Acten und Zeugnisse ihres hohen Berufs wegwarfen?

Doch tros dieses Beto jener Kritiker hat die poetische Productionskraft der Nation zahlreiche Blüten getrieben; ja auch auf der Bühne hat sich eine neue Richtung Bahn gebrochen, welche von künftigen Literarhistorikern selbst in ihren Anfängen nicht so unbeachtet bleiben wird, wie von den kritischen Wortführern der Gegenwart. Die dramatische Literatur hat in der jüngsten Epoche in doppelter Weise eine bedeutsame Die Gegenwart. VII.

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Wendung genommen: sie hat, von den Verirrungen der romantischen Epigonen zu rückkehrend, sich wieder der Bühne und damit dem Volke zugewendet, und andererseits den ganzen Gehalt einer das alte Weltbewußtsein umstürzenden Zeit in sich aufgenommen. Die Aufgabe, die sich die Dramatiker der Jestzeit, insofern sie ihr wahrhaft angehören, unterzogen, war keine geringere, als diesen neuen Gehalt mit den ewigen Formen der Schönheit zu vermitteln, und so das Bild dieser Zeit in vollendeter Form für alle Zeiten hinzustellen.

Dieses neue classische Ideal, lebendig im allgemeinen Bewußtsein, erfaßt von der vervollkommneten Theorie, angestrebt von der Praxis der dramatischen Dichtung, konnte natürlich in den revolutionären Anfängen einer geschichtlichen Übergangsepoche nicht erreicht werden; aber es scheint doch, als der wesentliche Kern, durch die mo derne dramatische Dichtung hindurch, und gibt ihr die eigentliche Bedeutung. Thöricht sind die Befürchtungen Derer, welche das ewige Gesetz der Schönheit durch die unbedingte Hingabe der Dichter an den Gehalt und Geist ihrer Zeit gefährdet wähnen. Das ist ja das erquickende Labsal der Idee, aus ihrer monotonen Einsamkeit ewig neu unterzutauchen in dem Weltstrom, in dem reizvollen Wechsel der Zeiten sich in stets erneuter Gewandung den Selbstgenuß ihrer Göttlichkeit zu geben. Die Tragödien eines Sophokles, mit der Stirn des Zeus und allen Grazien des Hellenenthums, die Tragödien Shakspeare's mit dem Aufschwung des erwachenden Britenstolzes und der ersten, wahrhaft modernen Vertiefung in das universelle Leben, wie sie im jungen Protestantismus lag: wodurch sind sie unsterblich gewor= den, als weil sie den Geist ihrer Zeit mit der Macht des Genies in schönen Formen wiedergaben? Oder ist die Verklärung des Katholicismus in Dante und Calderon nicht aus ihrer Zeit herausgeboren? Freilich, wer jest dichten wollte, wie diese, der wäre nur ein vergänglicher Dilettant, während jene unvergängliche Dichter bleiben. Rafael war ein begeisterter Künstler, als er seine Madonnen malte: er spiegelte das allgemein menschliche Ideal in den Refleren der Kirche, in jener phantastischen Entäußerung, wie sie die Andacht des gläubigen Mittelalters mit Inbrunst erfaßte. Wer jest Madonnen malt, wie Rafael, der verzichte auf die Unsterblichkeit; denn er ist ein schlechter und unwahrer Copist in einer Zeit, welche das allgemein Menschliche längst von den Formen der phantastischen Illusionen befreit und in seiner Schönheit und Wahrheit ohne Heiligenschein hingestellt. Nur der Dilettantismus lügt sich in eine untergegangene Weltanschauung hinein; die Kunst geht stets aus der lebendigen Gegenwart hervor. Wer den Besten seiner Zeit genug gethan, der hat gelebt für alle Zeiten; und nur wer im Geiste seiner Zeit gedichtet, der hat gedichtet für alle Zeiten. Dies gilt von jeder Epoche, auch von der jüngsten; von jeder Dichtung, auch von der dramatischen. Selbst Schiller und Goethe genügen nicht mehr unbedingt, bei dem bedeutenden Umschwung des politischen und socialen Lebens und der ästhetischen Kritik der lezten Jahrzehnde. Man muß dies um so entschiedener betonen, je mehr man die ganze aufkeimende jüngere Literatur in dem Schatten dieser marmornen Literaturgötter begraben will. Die Zeit der Apotheose mus abgelöst werden von einer Zeit der Kritik. Goethe's Dramen ermangeln der forttreibenden Energie der Handlung. Sie sind theils geschichtliche Genrebilder, wie Göz" und,, Egmont", in denen die Charakteristik bis zur liebevollen Ausmalung des kleinsten Detail überwiegt und den Fortgang der dramatischen Action, die großartige Auffassung geschichtlicher Principien und ihres Conflicts in Schatten stellt; theils sentimental - bürgerliche Komödien mit dem Firniß des Rococo, wie,,Stella" und Clavigo" mit Marien's charakterloser Schwindsucht und Clavigo's schwindsüch tiger Charakterlosigkeit; theils ideale Skizzen, wie,,Tasso", ohne dramatischen Ab. schluß, oder vom Hellenenthum abhängige Dichtungen, wie das beste Drama von allen,,,Iphigenia", oder den Nahmen des Drama sprengende, titanische Schöpfungen, wie der Faust". In allen fehlt der eigentlich dramatische Nerv, oder dieser geht in der lyrisch epischen Ausbreitung verloren. Schiller, ein ungleich größerer Dramatiker als Goethe, hat schon durch das geschichtliche Pathos, das er`beherrscht,

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