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In innigem Zusammenhange mit dem Heiligenglauben und dem Bilderdienste steht der Mystizismus, der über Rußland liegt wie Rauch und Nebel; der alle Klassen der Gesellschaft erfaßt; vom Zarenhofe herniedersteigt in die Niederungen des Volkes, zu den Bürgern und Bauern, zu den Denkern und Dichtern, zu den Kaufleuten und Soldaten. Niemand ist von ihm ausgenommen, keiner kann sich ihm entwinden. Leroy-Beaulieu1) bemerkt, daß der Mystizismus in Rußland mehr im Norden als im Süden zu Hause sei und der Isba des Landmannes vor dem Herrenschlosse den Vorzug gebe, weil der Muschik intimer mit der Natur in Berührung kommt und die Natur des Nordens geheimnisvoller und melancholischer ist als die des Südens. Mit dem einen Teile dieser Bemerkung, soweit sie die räumliche Beschränkung aufstellt, stimme ich fast überein. Der Hang der Russen zum Mystischen ist nicht, wie andere meinten und beweisen wollten, ein einfaches Attribut der Rasse, des slawischen Blutes, sondern viel eher entsprungen aus dem eigentümlichen Klima und Boden des Landes, aus dem scharfen Kontraste der Jahreszeiten, die denselben Mangel an Gleichgewicht aufweisen wie die Menschen dort, und die wie diese nicht fähig sind Maß zu halten. Die endlos langen Winternächte in den Schneewüsten; die endlos langen Sommertage auf den geheimnisvollen Steppen, über die man tagelang ziehen kann, ohne einem menschlichen Wesen zu begegnen; die Abende im Dezember und Januar, wenn am schwarzen Himmel die Sterne in einem fast blendenden Glanze funkeln; und die Abende im Juni, wenn der Äther einen wunderbar durchsichtigen, phantastisch weitgedehnten Himmel sehen läßt das alles ist wohl geeignet, in der Seele des Schauenden und Erschauernden, des einsam ziellos Wandernden mystische Regungen wachzurufen; und es erklärt gewiß das geheimnisreiche Hindämmern des Russenvolkes, das willenlose Verharren in geistiger Untätigkeit und kulturellem Zwielicht. Aber dieser Mystizismus beschränkt sich nicht bloß auf die Muschiks in den Isbas; man kann auch kaum sagen, daß er bei ihnen häufiger zu finden sei als in den übrigen Klassen

1) a. a. O. III 23.

des russischen Volkes. Nur den einen Unterschied dürfte man zugestehen: daß er bei dem Muschik unbewußt vorhanden ist, bei dem Städter, im Herrenschlosse, im Zarenpalaste bewußt vorherrscht; daß der Muschik sich ihm gedankenlos unterordnet, daß ihn die anderen aber, wenn nicht zu bannen, doch zu verleugnen trachten, sich seiner schämen und ihm gern einen anderen Namen geben. Und diesen Mystizismus der Städter, Edelleute, Hofleute und Herrscher, der Intelligenz und der Geistlichkeit, ihn kann man nicht mehr mit dem fatalistischen Achselzucken abtun, daß er das unabwend bare Wiegengeschenk des Klimas und der Natur sei. Nein, dieser Mystizismus der Nicht-Muschiks ist die Folge der unermeßlichen historischen Leiden und Laster Rußlands. Er ist der schwarze Faden, der uns durch alle Irrgänge des Labyrinths führt, welches Geschichte Rußlands, und für uns im besonderen die Geschichte seiner öffentlichen Sittlichkeit heißt. Durch ihn irregeführt erhielten sich die Herrscher Rußlands auf dem blutigen Throne des Absolutismus; und er ist es, der die Sklaven die Ketten klaglos tragen hieß. Die einen wie die anderen glaubten bis heute, daß es so und nicht anders sein müsse und sein könne. Mit der Alleinherrschaft steht und fällt der Mystizismus. Darum waren alle russischen Zaren und Kaiser die ersten Mystiker in ihrem Reiche, und darum die Dichter und Denker die größten Nihilisten. Bei den Zaren der alten Zeit äußerte sich der Mystizismus, wie bei Iwan dem Schrecklichen als typischem Beispiel, bald in erotisch-neronischem Wahnsinn, bald in der Feigheit als Frömmigkeit. Als Iwan der Schreckliche zur Eroberung von Kasanj auszog, wagte er nur Schritt um Schritt vorzudringen, hielt er in jedem Kloster und in jeder Kirche Rast, nicht um den Sieg des Heeres, sondern um den göttlichen Schutz für sein zarisches Haupt zu erflehen. Während er, endlich vor Kasanj angelangt, die Krieger in den Kampf schickte, blieb er angetan mit dem Kriegskleide bei seiner geistlichen Garde zurück und las zitternd Gebete. Als die Heerführer ihn baten, die verzagenden Truppen zu befeuern, entgegnete er:,,Kämpfet nur, meine Helden, ich bete für euch! Lasset mich nur der Gnade Christi teilhaftig werden, und ihr müßt siegen!" Bei den

Romanows tauchen alle Herrscher, wie immer sie auch begonnen haben mögen, in einem mystischen Dämmer unter. Selbst Peter der Große, der Freigeist und Antichrist, endet als krankhafter Traumdeuter. Nikolaj I. flüchtet sich trotz seines sadistischen Zäsarenwahnsinns, trotzdem er sich als Gott fühlt, in schwierigen Fällen zu Hexen, um ihren Ratschlägen zu horchen und zu folgen; und verfällt zum Schlusse religiöser Verfolgungswut. Der Mystizismus Alexanders III., der sich anfänglich in einer Sehnsucht nach der Rückkehr zur Natur äußert und den Zaren den Wunsch aussprechen läßt: „Ich möchte der Bauernzar heißen und sein", wird endlich wie bei Nikolaj I. religiöse Verfolgungswut. Der erste Romanow, der fast gänzlich einem religiösen Mystizismus anheimfiel, war Paul. Im Gatschinaer Schlosse zeigte man die Stellen, wo der Kaiser in Gebet versunken und in Tränen aufgelöst zu knien pflegte; das Parkett war an diesen Stellen abgerieben.1) Pauls Liebschaft mit Katharina Nelidow war eine platonischmystische. Ein ähnliches platonisch-mystisch-religiöses Verhältnis bestand zwischen Pauls Sohne Alexander I. und Frau von Krüdener. Propheten und Wundermänner gehörten von allem Anfang an zu den Vertrauten des Kaisers Alexander I. Er ließ sich immer die Vorsehung künden und glaubte zeitweilig göttliche Eingebungen zu empfangen. Der Kirchenprediger Philaret wurde schnell Metropolit von Moskau, weil er durch seine Lehre, das Reich Gottes liege in den Menschen, in der mystischen Seele Alexanders I. eine mitklingende Saite berührte.2) Der Kaiser trat zu dem Skopzengott Peter Feodorowitsch in persönliche Beziehungen; die Kriegsjahre und die Errettung Rußlands aus der napoleonischen Not steigerten seine Hinneigung zum Mystizismus; die russische Bibelgesellschaft wurde begründet und Geistliche und Laien aller Konfessionen, Mystiker, Freimaurer und Sektierer suchten deren Mitgliedschaft. Frau von Krüdener übte auf den krankhaften Herrscher einen solchen Einfluß, daß er nach Zwiegesprächen

1) Записки Саблукова, Русскій Архивъ 1869, 1877. — Шумигорскій, Марія Ѳеодоровна, С.-Петербургъ 1892, І 357.

2) Schiemann, Alexander I. 413.

mit ihr zerknirscht zu ihren Füßen sank und erst durch ihre Versicherung, daß ihm noch Hoffnung auf himmlische Begnadigung winke, wieder aufgerichtet werden konnte. Diese Zwiegespräche dauerten häufig bis zwei Uhr Nachts. Dann sah man den Kaiser mit verweinten Augen aus dem Zinimer der Apostelin kommen.1) Die Reihe der pietistischen Schwärmer im Hause Romanow-Holstein-Gottorp setzte sich fort in dem weinerlichen Heiligenbildanbeter Alexander II. und endet vorläufig in dem weichlichen Nikolaj II., der gleich Iwan dem Schrecklichen es vorzog, statt an der Spitze der Armee durch persönlichen Mut zu glänzen, durch Heiligenbilder und mystische Opfer den Sieg vom Himmel zu erflehen; der statt auf die brausenden Stimmen der Zeit zu hören, nur dem geheimnisvollen Flüstern des wundertätigen Joan von Kronstadt, den Ratschlägen von Zauberern und Wahrsagern lauscht.

Zu Zeiten Alexanders I. ging der Mystizismus vom Zaren und seiner Umgebung aus und ergriff die ganze Gesellschaft. Diesmal unter Nikolaj II. war es umgekehrt. Die Dichter des neueren Rußland, von Gogolj bis Tolstoj, sie waren es, die vor dem trostlosen Elend des russischen Lebens im Mystizismus Zuflucht suchten und mit ihren Poesien und Traktätchen das ganze Volk wie mit einem Nessusgewand umhüllten. Nikolaj II. bekennt sich selbst als Verehrer und Schüler eines Leo Tolstoj, der alle seine großen Dichtungen für nichts schätzt im Vergleiche zu seinen religiös-mystischen Predigten, in denen er die Rückkehr zum Urchristentum sucht und zur Überzeugung kommt: Nur dort sei es gut, wo es keine Kultur gebe. An dem heutigen Christentum übt Tolstoj die schärfste Kritik und sagt: der Mensch habe die Aufgabe sein Glück in seinem Inneren zu suchen; das Glück kann nur im einfältigen Gottesglauben und in der Rückkehr zur Einfachheit des natürlichen Urzustandes gefunden werden. 1) Ein großer Teil der modernen russischen Dichter ist mystisch-symbolistisch. Berühmt und berüchtigt zugleich wurde die Poetengruppe der sogenannten

1) Rußland was es war und was es ist. Eine bis auf die neueste Zeit fortgesetzte Geschichte Rußlands, Pest 1855, 208.

2) Bernhard Stern, Aus dem modernen Rußland, Berlin 1893, 51.

Moskauer Symbolisten 1), die einen eigenen Verlag,,Skorpion“ für ihre Erzeugnisse gründeten. Der Götze dieser Gruppe ist Alexander Dobroljubow, ein überaus origineller Geist, der in den Mystizismus eine scharfgewürzte geschlechtliche Unmoral mischt. Seine Anschauung, sein Denken und Fühlen faßt sein Biograph Iwan Konewskoj in folgenden Satz zusammen:,,Er hat seine eigene Welt außerhalb der menschlichen Gedanken, außerhalb des Körpers und außerhalb des Verstandes. Sein Schaffen ist von den gewöhnlichen Sinneswahrnehmungen und von der gewöhnlichen Logik mit ihren Traditionen losgelöst." Noch mystischer als dieser Meister ist sein Schüler Walerij Brjußow, der nur ganz kurze Gedichte, am liebsten einzeilige verfaßt wie etwa dieses: 0 umhülle deine bleichen Füße!" Dann ein Gedankenstrich, und sonst nichts weiter. Lächelnd darf man aber in Rußland auch an solchen Erscheinungen der Literatur nicht vorübergehen, denn gewöhnlich werden sie, weil sie niemand versteht, Stifter von erotischen und religiösen Sekten, deren Bildung eine natürliche Folge des nebelhaften Mystizismus sein muß.

10. Sektenwesen.

IO.

Geringe Kenntnis vom russischen Sektenwesen

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Gründe dafür

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Die

Gesichtspunkt Sektenwesen und Erotik Anzahl der Sektierer frühesten Ketzereien Die Lehre des Bischofs Leon — Unmoral der hohen Geistlichkeit Die Bogumilen Wie Sekten entstehen Die Strigolniki Ertränkung eines Ketzers Die jüdische Häresie - Ihre Gründer und Lehren Des heiligen Joseph Schrift gegen die Ketzerei Die Beschneidung in Rußland Ein Ketzer Metropolit Spaniens Autodafé als Muster für Rußland Bestrafung von Ketzern Scheiterhaufen in Rußland Fortsetzungen der jüdischen Ketzerei · Der Jude Baruch und sein Schüler lebendig verbrannt Die modernen Subotniki und ihr Apostel Iljin Rothschild der Satansrabbi Verbrennung von Ketzern unter Peter dem Großen Die Mystiker Kuhlmann und Nordermann lebendig verbrannt Tanzende Ketzerinnen geknutet Verbrennung von Ketzerleichen Toleranz-Ukas Alexanders I. Ketzergesetze Nikolajs I. Polizei und Gendarmen als Wächter der Kirche Klagen des Synod und der Mission gegen den Staat

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1) Vgl. die von A. Wolynskij geschriebene Geschichte der russischen Poesie der Gegenwart (in russischer Sprache).

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