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ders I.:,,Geziemt es einer Regierung die verirrten Kinder der Kirche durch Heftigkeit und Grausamkeit in den Schoß der Orthodoxie zurückzuzwingen?“

Vergebens sind hunderte Gesetze gegen das Sektenwesen geschaffen worden. Vergebens hat Nikolaj II. den zahllosen alten Gesetzen neue eigener Erfindung hinzugefügt und befohlen: daß die Altgläubigen keinen Gottesdienst abhalten dürfen; daß ihre Missionäre nicht predigen sollen; daß ihre Geistlichen sich nirgends öffentlich in ihrer Tracht sehen lassen; daß niemand die orthodoxe Kirche einer Kritik zu unterziehen wage. Das Sektenwesen war nicht zerstörbar, so lange die Autokratie unantastbar auf ihrem Götzenthrone saß; es wird jetzt noch weniger als je ausgerottet werden können, da es, ein Geschöpf des Chaos unter den ersten Romanows, heute unerschöpfliche Nahrung im neuen Chaos unter dem vielleicht letzten herrschenden Romanow findet. Geboren von der Verwirrung, gesäugt und großgezogen von der wildesten Sittenlosigkeit, die je in einem Reiche geherrscht hat, bleibt es im Feuerregen der platzenden Bomben, in dem stürzenden Bau des russischen Sodom allein aufrecht als das furchtbarste Denkmal dieser barbarischen Tyrannendynastie, dieses kulturlosen Reiches, dieses sklavischen Volkes, dieser sittenlosen Kirche. Wenn wir von den alten Häresien absehen, so erscheint das ganze russische Sektenwesen seit mehr denn zweihundert Jahren als die Folge der politisch-religiösen Wirren unter den ersten Romanows; anfänglich nur von religiöser und politischer Bedeutung, ist der Raẞkol in seiner abschüssigen Entwicklung eine rein soziale und sittliche Erscheinung geworden, ein Spiegelbild aller bösen moralischen Instinkte des Reiches und Volkes.

Die Entstehung des großen Raßkol, der Sekte der Altgläubigen, wird im allgemeinen den Meinungsverschiedenheiten bei der Interpretation der Dogmen, der Revision der liturgischen Bücher durch den Patriarchen Nikon zugeschrieben. Würde dies der einzige Grund sein, so hätte der Raẞkol schon viel früher sein Haupt erheben müssen. Denn bereits im Jahre 1470 berichten die russischen Chronisten das Entsetzliche:,,daß in dem Winter dieses Jahres einige Philosophen anfingen zu

sagen:,,O Herr, erbarme dich unser!" statt:,,Herr, erbarme dich unser!" Um dem abscheulichen Greuel ein Ende zu machen und die richtige Leseart des Ausrufs festzustellen, berief der Zar einen gelehrten Mönch vom Berge Athos, den Griechen Maxim1), und übertrug ihm die Aufgabe der Reinigung des Textes in den Manuskripten.2) Ein Schreiber, der die korrigierten Texte zu kopieren hatte, notierte in seinen Denkwürdigkeiten:,,Als mir von dem Griechen der Befehl erteilt wurde, die falschen Wendungen und Ausdrücke unserer altehrwürdigen Meß- und Gesangbücher zu tilgen, ergriff mich ein heiliger Schauer, eine entsetzliche unerklärliche Furcht!" Diese Furcht war verständlich. Für das rohe russische Volk, das im Scheine des Christentums seine alten heidnischen Götter ehrte, vom Wesen des Christentums nichts erfaßt hatte, war nur das Äußere von wahrem Werte. In den altehrwürdigen Wendungen und Ausdrücken der Meß- und Gesangbücher sah es gleichsam nur die uralten Beschwörungsformeln wieder; und man weiß, daß der Aberglaube Zauberformeln nur dann eine Wirkung zuschreibt, wenn sie selbst im Sinnlosesten einen verborgenen Sinn vermuten lassen, und an den Ausdrücken und Zeichen nicht im geringsten gerüttelt wird. Eine Korrektur in der Reihenfolge der Worte, eine Abweichung in irgend einer der Zeremonien: und der Zauber ist unwirksam. Die Änderungen Maxims verursachten also natürliche Aufregung, aber zu Aufruhr oder Kirchenspaltung kam es damals trotzdem nicht. Das Volk begnügte sich damit, daß man ihm den kühnen Griechen zum Opfer brachte, den Verbesserer als Verderber der Kirchentexte für Lebenszeit in ein klösterliches Gefängnis sperrte. Durch ein Jahrhundert wurden. mehrere neue schüchterne Versuche unternommen; und die, welche den Reformen gegenüber Widerspenstigkeit bewiesen, wurden mit dem Kirchenbann belegt und mit der Knute bearbeitet. Es fanden sich daher nur wenige, welche offen ihre Unzufriedenheit zu äußern wagten. Im geheimen gärte in

1) Kostomarow hat in seinen (nur in russischer Sprache vorhandenen) „Biographieen“ dem Mönch Maxim ein schönes Denkmal gesetzt.

2) Bernhard Stern, Aus dem modernen Rußland, 102. - Leroy-Beaulieu III 315 ff. Le Raskol. Hellwald a. a. O.

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dessen ein furchtbarer Aufruhr der Gemüter, und es bedurfte nur des zündenden Anlasses zum Aufflammen des Brandes. Diesen Anlaß gab das energische Auftreten des Patriarchen Nikon1), der das Reformwerk unter dem Zaren Alexej zu Ende führte. Aber sein Triumph war ein Pyrrhussieg ohnegleichen. Seine Verbesserungen wurden vom Kirchenkonzil angenommen, er selbst aber gestürzt und eingekerkert. Ein Bild echt russischer Sitte und Moral! Während die Reform triumphiert, verschmachtet der Reformator hinter Gefängnismauern. Mit Nikon ging der hohe Klerus, gegen Nikon standen der niedere Klerus und das Volk, aber auch die Beamtenschaft und der Adel. Denn der Patriarch wollte nicht bloß die Kirche, sondern auch die Verwaltung reinigen von den Irrtümern und Fehlern, an Stelle der Raubsucht und der Willkür die Ehrlichkeit und die Gerechtigkeit setzen. Zwanzig Jahre lang dauerte dieser Kampf zwischen Patriarchat und Bojarentum; jede der beiden Parteien nannte sich die für die Rechtgläubigkeit streitende, und endlich im Jahre 1666 ergab sich das merkwürdige Resultat, das wir schon erwähnt haben: Nikons Reformen wurden gutgeheißen, Nikon selbst aber dem Hasse des Adels und Volkes zum Opfer gebracht. Dieses unsinnige und unmoralische System, welches das Recht bestrafte und die Falschheit belohnte, mußte die Sittlichkeitsbegriffe des Volkes vollkommen verwirren. In dem Siege der Nikonschen Reformen sah man den den Triumph eines römischen und protestantischen Machwerkes, in der Einkerkerung Nikons den Triumph des gerechten Gottes über den schon

1) Nicolas de Gerebtzoff, Essai sur l'histoire de la Civilisation en Russie, II. Leroy-Beaulieu a. a. O. III 318. Aus den zahlreichen russischen Arbeiten über Nikon erwähne ich das schöne Werk des Metropoliten Makarij, die Skizze von Alexej Ssuworin in seinem Buche über hervorragende russische Männer, die kulturhistorischen Novellen und einen Roman von D. L. Mordowzew, endlich Schuscherins ältere Schrift, die 1788 in Riga auch in deutscher Übersetzung erschien. Vgl. Bernhard Stern, Aus dem modernen Rußland, 103. Nikon war zweifellos ein genialer Mann, und nicht an ihm, sondern an dem unglückseligen Charakter des Volkes und an den unveränderlichen eigentümlichen Zuständen dieses Reiches lag es, daß er für Rußland nicht Schöpfer von Freiheit, Fortschritt und Wohlfahrt wurde.

siegenden Antichrist.1)

Als im Volke auf Grund dieser Anschauung die konsequente Folgerung zur Geltung gelangte, daß die Taten des Antichrist nicht befolgt werden dürften; als sich in weiterer Folge eine große Kirchenspaltung ergab - da brachte es die merkwürdige Logik der führenden Geister dahin, folgenden Beschluß zu verkündigen: die Nikonsche Reform ist verdammenswert, aber gültig; und verdammt als Feinde der Rechtgläubigkeit sind jene, welche die Gültigkeit der neuen Kirchenordnung nicht anerkennen. Bannstrahl und Verfolgung aber vernichteten nicht das „,Unkraut Satans“, das winkende Martyrium schuf den Raßkol, der dem Volke im Glanze eines Verteidigers der uralten Formen, Traditionen, Sitten und Gebräuche erschien. Peters des Großen barbarische Europäisierungsmethode war neue Nahrung für die Altgläubigen. Zu den religiösen Motiven der Unzufriedenheit traten politische, soziale und sittliche Momente. Peter der Große konnte dem rohen Russen als die wahre Inkarnation des Antichrist gelten, als der Herr der Hölle, als der Voilstrecker satanischer Gesetze.2) Sein ganzes Wesen und Leben war geeignet, dem einfachen Volke als ein Spiegelbild der Hölle zu erscheinen. Seine und seiner Umgebung Sittenlosigkeit überschritt alles Maß. Man sah wie Peter brutal die Moralgesetze verhöhnte, in den gemeinsten Ausschweifungen

1) Kabbalistische Klügelei sieht in der Zahl 666 ein teufliches Zeichen, und Nikon, im Jahre 1666 gestürzt, wurde auf mühsamem Umwege also zum Antichrist gestempelt.

2) Auch hier ergab die Kabbala durch Herbeizwingung der Zahl 666 das untrügliche Satanszeichen. Jeder Buchstabe hat im Slawonischen, wie auch in verschiedenen anderen Sprachen, Bedeutung als Ziffer. Mit einigen kleinen Änderungen ergibt Peter der Erste 666, die teuflische Zahl. Aus dem verhaßten Titel Императорь, den Peter statt des Пapь-Titels annahm, war 666 herausgebracht; man brauchte nur das м fortzulassen, so erhielt man 666 (и 10, п 80, e 5, p 100, a 1, T 300. 0 70, p 100); м bedeutet 40, dies hätte einen Strich durch die Rechnung gemacht und wurde deshalb geopfert, mit der Motivirung: der Antichrist habe schlauer Weise diesen Buchstaben hineingeschmuggelt, um sich nicht fangen zu lassen. Die Zahl 666 fanden die Sektierer später bei allen sektenfeindlichen Herrschern und Herrscherinnen heraus: Katharina II., Paul I. und Nikolaj I. ergeben nach Sektiererberechnung 666, wogegen diese Zahl bei den sektenfreundlichen Alexander I. und II. in keinem Falle soll herausgebracht werden können.

öffentlich schwelgte, wie er seine Gattin verstieß und allen Gesetzen zum Trotze bei ihren Lebzeiten eine gemeine Hure zur Kaiserin erhob, wie er selbst dieser Dirne zuliebe seinen leiblichen Sohn Alexej ermordete. Auch war er vom Satan gezeichnet, da er trotz seiner riesenhaften Gesundheit stets krampfhaften Zuckungen erlag, die bei allen Abergläubischen als Zeichen einer heimlichen Verbindung des Leidenden mit dem Teufel gelten. Dieses Gefäß der Sünde, dieser grimmige Werwolf war nicht der weiße Zar, sondern ein Usurpator; war auch nicht ein Zarenkind, sondern ein Wechselbalg, erzeugt aus einem unreinen verbrecherischen Geschlechtsakte des Antichrist Nikon mit einer Teufelin. Andere wollten wissen, daß der wahre Zarensohn Peter Alexejewitsch bei einer Meerfahrt verunglückte und daß der Teufel an Stelle des Ertrunkenen einen Juden vom Stamme Dan untergeschoben habe, der dann im Auftrage Satans die Zarin Jewdokia ins Kloster verbannte, den Prinzen Alexej tötete, die deutsche Hure Katharina heiratete und Rußland unter das Joch von Ausländern zwang. Nur der Hülfe des Teufels konnte es ja Peter verdanken, daß ihn die schwersten Niederlagen nicht zerschmetterten, daß er bei Poltawa den Türken entrann, daß er zum Schlusse so unmögliche Siege erfocht. So entwickelte sich der Widerstand gegen die kirchlichen formalen Neuerungen zu einer Opposition auf allen Gebieten des russischen Lebens, und die Altgläubigen klammerten sich nicht bloß an die alten Riten, sondern auch an die alten slawonischen Lettern1), an

1) Sie wurden deshalb die gewissenhaften Hüter der lyrischen und epischen Schätze, die sorgsamen Bewahrer der Romanzen und Heldenlieder. Meljnikow-Petscherskij fand bei ihnen ein Lied zur Feier des Frühlingsfestes, das deutlichen Anklang an altslawische Poesie verrät, und Rybnikow und Hilferding sammelten den größten Teil der von ihnen herausgegebenen Bylinen oder Heldenlieder bei den Rhapsoden der Raßkoljniki in den Gouvernements Olonez und Tschernigow. Die Berichte dieser Literaturforscher sind auch für die Sittengeschichte von großem Interesse. Bei der Bevölkerung, die dort großenteils aus Altgläubigen besteht, haben sich die alten Trachten, Gebräuche, Sagen, Lieder und Aberglauben ganz unverändert erhalten. Vgl. Пѣсни собранныя П. И. Рыбниковымъ, 1861—1867. Онежскія былины, записанныя Александромъ Ѳеодоровичомъ Гильфердингомъ лѣтомъ 1871 года. С.-Петербургъ 1873.

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