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die alten Trachten, an den langen Bart1), an die unveränderlichen Gebräuche im Privatleben, und in Konsequenz alles dessen verabscheut man alles neue nicht bloß in Religion, sondern in jeder Beziehung bis hinab zu den Speisen und Getränken.2) Indem nicht bloß die Kirche durch ihre Mittel die Sektierer zur Orthodoxie zurückzuführen trachtete, sondern auch die Regierung mit ihrem Drakonismus gegen die harmlose Anhänglichkeit der Raẞkoljniki an den alten Sitten auftrat, wurde der trotzige Widerstand gegen die Kirche wie gegen den Staat hervorgerufen, und der Raẞkol zu einem Feinde der Kirche wie des Staates gewaltsam erzogen. Die religiösen Fragen und der kleinliche Streit um die Dogmen wurden vermengt mit politischen, sozialen und sittlichen Widersetzlichkeiten; dem Antichrist, der jetzt also seit zweihundert Jahren Rußland beherrscht, wird in allen Fällen der Gehorsam verweigert, und der Tod in der Schlacht gegen Satan ist ein ersehntes Martyrium. Die Orthodoxie wurde zur Religion der Herrschenden und der Bedrücker, das Schisma die Zuflucht der Leibeigenen, der Mühseligen und Beladenen.

1) Der Langbart namentlich ist das äußere Zeichen der Zusammengehörigkeit aller Altrussen, das treu bewahrte und ängstliche Sinnbild der guten alten Vorväterzeit. Man vgl. oben mein Kapitel über den Barbier als Erzieher, sowie Leroy-Beaulieu a. a. O. III 337.

2) Daher sind Tabak, Kaffee und Tee verpönt. Ein Sprichwort der Altgläubigen sagt: Wer raucht, verscheucht den heiligen Geist; wer Kaffee trinkt, wird vom Blitz getroffen; wer Tee trinkt, kann nicht selig werden. Vom Tee heißt es auch symbolisch: Ein Pfeil kam aus China nach Rußland geflogen und durchbohrte das Herz des Volkes.

II. Erotische Sekten und Flagellanten.

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Altgläubige und Gleichgläubige Güterverteilung verlangt Verfolgung der Altgläubigen Kleinliche Ursachen der Ketzerei Die Malakanen oder Milchesser Abarten dieser Sekte Weibergemeinschaft Duchoborzen Ein Gouverneursbericht Anständigkeit Grund zur Verfolgung Abarten der Duchoborzen Eheliche Ungebundenheit Strafe für zuchtlose Frauen Pobjedonoẞzews Angst Neu-Stundisten und

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Stundisten Ermordung schwächlicher Kinder

vor Sozialpolitik

Katkow gegen die Stundisten

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Flagellanten Das Sektenwesen in den baltischen Provinzen deutschen Orden Livland christianisierten Salonstundismus oder Paschkowismus Verfolgung rationalistischer, Duldung erotischer Sekten Sselesnowzy

Die

Der Bauernapostel Ssutajew und Graf Leo Tolstoi Sekte der Anhänger der,,Kreutzersonate" Närrische Sekten Spuckersekte

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Die Verneiner Die Nichtbeter Seufzende Stumme Parallele zwischen
russischen und katholischen Sekten Roheit und Wildheit der russischen
Sekten Peter III. als Sektengott
Neue Heilande - Panow Christus

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Chlysty Gott Zebaoth Daniel Filipowitsch

Iwan Timofejewitsch Christus Parodie auf die Auferstehung

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Christus

auf Erden Ein Christus für jede Gemeinde und jede Generation Neue Gottesmütter Die heilige Jungfrau Uljana Wassiljew Der Sektenwallfahrtsort Staroje Rolle der russischen Frau im Sektenwesen nehme Gesellschaft unter erotischen Sektierern und Flagellanten der Sünde durch die Sünde Unzucht in Sektenklöstern

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Michaelspalast Russische Adamiten Tänzer
Vortrag biblischer Obszönitäten Die Sekte der Lichtauslöscher

Skakuny als Kindermörder.

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Der Raßkol in Rußland ist, wie wir gesehen haben, aus ganz geringfügigen formalen Streitigkeiten und Textfragen hervorgegangen und schien in seinem Beginne eine leicht zu überbrückende Kirchenspaltung. Und doch gibt es in keiner Religion ein ähnliches Beispiel dafür, daß ein Schisma von so nichtigem Ursprung solche Dauer und im Fortleben solche wachsende Kraft gezeigt hätte. Den großen Stamm des Raẞkol bilden die Starowerzy1), die mit unausrottbarer Zähigkeit an

1) СтаровьршыI, wörtlich die Altgläubigen, auch старообряы, die Altbräuchigen; vgl. die Skizze von И. Жилкинъ, Старообрядцы на Волгѣ, С.-Пет. Вѣдомости, январ. 1904.

Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Rußland.

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dem Formalismus und Buchstabenkultus hängen. Die Altgläubigen sind daher von Peter dem Großen als die Fortpflanzer der reaktionären Traditionen betrachtet worden, und sie sind auch heute unter Nikolaj II. Elemente, die eine Reform in europäischem Sinne mit aller Gewalt verhindern würden. Sie sind konservativ in ihren Grundprinzipien. Der früh verstorbene älteste Sohn Alexanders II., Großfürst Nikolaj, fragte einmal einen Raßkoljnik 1):,,Warum verwerft ihr unsere Kirche ?" und erhielt darauf zur Antwort:,,Weil dies unsere Väter und Vorväter gelehrt haben". Und einem Richter entgegnete ein anderer Altgläubiger:,,Das sind die ehrwürdigen Gebräuche unserer Väter, die wir befolgen. Man verbanne uns wohin immer und lasse uns nur den alten Glauben !" 2) Da in Rußland aber alles Lebende und Tote ewige Kontraste aufweist, ist auch der Raßkol, sonst so konservativ und reaktionär, gleichzeitig revolutionär, ja anarchisch. Wie die Orthodoxie die Religion der Herren, ist der Raßkol der Glaube der Sklaven. Die Entstehung des großen Schisma fällt fast zusammen mit der Einführung der Leibeigenschaft. In der Abtrünnigkeit von der Kirche fanden die Geknechteten einen Trost für ihre Leiden; den Unterdrückern sahen sie wohl ihre Leiber ausgeliefert, ihre Seelen aber blieben frei in einem Glauben, der dem der Herren entgegengesetzt war. Leroy-Beaulieu3) sieht im Raẞkol nicht einzig und allein ein Krankheitssymptom, ein Zeichen geistiger Schwäche, sondern auch einen Beweis, wenn nicht für Verstand, so doch für Gewissenhaftigkeit, Pflichttreue und Charakterstärke des Russen. Dies kann nur im Großen und Ganzen und nur für Jene gelten, die sich aus religiösen und moralischen Motiven von der orthodoxen Kirche getrennt, aber in dem Schoße ihrer Gemeinden auch den Armen und Bedrückten Zufluchtsstätten geboten haben; reaktionär und konservativ in allen Fragen der Religion, des Staates und der Gesellschaft, nährten diese Altgläubigen doch

1) Раскоьниь heißt zwar jeder Sektierer; man bezeichnet aber damit im allgemeinen den Altgläubigen.

2) Ф. В. Ливановъ, Раскольники и остройники, І 28.

3) a. a. O. III 356.

immer die Hoffnung auf ein Rußland, in dem auch der Muschik wird frei leben können; drängten sie nach Erfüllung der Forderung, die in einer Verteilung von Grund und Boden unter die Bauern1) das Prinzip der allgemeinen Gerechtigkeit aufstellt. Aber wie gering ist die Zahl der Logiker und Verstandesketzer; wie schwächlich diese große Gruppe der Starowerzy gegenüber den zahllosen kleinen Gruppen, die sich auch religiöse Sektierer nennen und nichts anderes sind als Nihilisten oder Sittensünder.

Zwischen den Altgläubigen und den orthodoxen Russen bestehen tatsächlich nur formale Differenzen in betreff des Kultus; es konnte deshalb geschehen, daß die Regierung einem Teil dieser Schismatiker, unter Einräumung von Konzessionen von beiden Seiten, staatliche und kirchliche Anerkennung gewährte. Man nennt solche Halbbekehrte Jedinowerzy2); sie dürfen ihren Kultus frei ausüben; sie haben zwar ihre eigenen Priester, die jedoch von der orthodoxen Kirche bestätigt werden; sie besitzen ihre eigenen Männer- und Frauenklöster, deren Regeln sich aber von den Klosterregeln der Orthodoxen kaum unterscheiden. Auch die noch im Schisma verbliebenen Starowerzy sind bloß theoretische Abtrünnige. Sie folgen zwar meist ihrem Spruche:,,Wer Gott fürchtet, geht nicht in die Kirche!" aber sonst geben sie keinen Anlaß zu Verdrießlichkeiten, sind angesehene Handwerker, reiche Kaufleute, fleißige Bauern, die ihre Religion in Übung von Wohltaten, in Beachtung von Recht, Gerechtigkeit und Ehrlichkeit, und das Heil auf Erden in der Arbeit sehen. Die russische Regierung hat nun gerade diese ruhigen Frommen zu Opfern ihrer Verfolgungssucht gemacht3), und so durch einen zweck

1) Unter Alexander II. richtete der Raẞkoljnik Adrian Puschkin, ein Kaufmann aus Perm, Briefe an den Zaren und die Minister, worin er erklärte: Die Zeit sei da, wo das Land, das Eigentum Gottes, unter alle verteilt werden müsse. Er erhielt dafür fünfzehn Jahre Zwangsaufenthalt in dem Kloster für kirchliche Verbrecher zu Ssolowezk am Weißen Meere. Puschkins Schüler, der Arzt Korobow, entfloh beizeiten nach der Schweiz und gab in Genf ein Blatt heraus, das Organ der ,,Kinder Gottes", wie sich die bald darauf ent standene Puschkinsche Gemeinde von Sektierern nannte.

2) Единовѣрецъ, der Gleichgläubige.

3) Die Verfolgten flüchteten aus den Zentren in die Verborgenheit der

losen Druck einen Fanatismus erzeugt, der dem Ausgangspunkte des Schismas längst nicht mehr entspricht. Das winkende Martyrium verlockte Zahllose, sich durch stets gesteigerte Wahnsinnslehren zu Prophetentum und Erlöserglorie hinaufzuschwingen.

Anfänglich kannte man neben den Starowerzy nur solche Sekten, die aus dogmatischen Meinungsverschiedenheiten entsprungen waren. So gab es einmal einen Streit über die Frage, ob man nach dem dreifachen Gloria zwei- oder dreimal Halleluja singen müsse. Ein anderes Mal trennten sich viele von der Kirche, weil sie den Namen des Heilands nicht mehr lissus, dreisilbig, sondern Issus, zweisilbig, auszusprechen begannen. Die Fragen, ob man beim Opfergange nach rechts oder links schreiten, ob beim griechischen Kreuz der Hauptstab von zwei oder drei Stäben durchschnitten sein, ob man sich mit zwei, drei oder mehr Fingern bekreuzigen müsse, alle diese Fragen führten zu Kirchenspaltungen.

Nur drei von den vielen Hunderten Sekten sind es, die von religiösem Standpunkte aus eine ernste Betrachtung verdienen würden, weil sie tatsächlich auf Prinzipien begründet sind: das sind die Sekten der Malakanen, Duchoborzen und Stundisten.1) Bei allen dreien erkennt man den Einfluß euro

fernen Gouvernements, in die Wälder von Wjatka, Wologda, Kostroma, in die Einöden Sibiriens oder über die Grenze nach Polen, Rumänien, Österreich. Zahlreiche Altgläubige siedelten sich namentlich in den Regionen der Wolga an, deren weite Landschaften mit ihrem Reichtum an Wäldern und Wassern für ganze Völker überflüssigen Raum boten. Vgl. über diese Ansiedlungen die eingangs zitierte Skizze : Жилкинъ, Старообрядцы. Viele Sektierer flüchteten auch in die nördlichen Regionen, nach Olonez und Archangelsk; sie sind unter der allgemeinen Bezeichnung Iоморшы, die am Meere Wohnenden, bekannt. Die ersten Mittelpunkte von Sektierern bildeten Cкиты oder Einsiedeleien, eine Art Klöster, die in Wäldern errichtet wurden; rund herum ließen sich immer neue Anhänger nieder. Unter Nikolaj I. wurden die berühmtesten CKIITLI zerstört. Vgl. darüber Leroy-Beaulieu a. a. O. III 382. Trotzdem sind noch, im Norden und Osten besonders, solcher Einsiedeleien zahllose übriggeblieben. Diese иты wurden im Laufe der Zeit Zufluchtsstätten von Verbrechern und Höhlen der Wollust und Sittenlosigkeit, da sie den Behörden häufig unbekannt bleiben dank der großen Ausdehnung der Wälder und der Verschwiegenheit der Sektierer.

1) Diesen drei Sekten habe ich schon in meinem Buche,,Aus dem mo

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