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wirrt, wenn ihn der Teufel seines Aberglaubens jagt oder der in ihm schlummernde sadistische Trieb erwacht und seine Wollust wild aufpeitscht. Typische Morde aus Aberglauben und Wollust sind in den früheren Kapiteln schon geschildert worden; wir werden den Verbrechen aus solchen Motiven noch öfter in den späteren Kapiteln begegnen. Wenn man in Rußland von alledem trotz des häufigen Vorkommens nicht viel hört, so liegt dies auch daran, daß man dort überhaupt nicht laut von etwas spricht, das irgendwie in Zusammenhang mit der Staatsverwaltung gebracht werden könnte. Man entschließt sich schwer dazu, was man erfahren hat, weiter zu berichten oder zu veröffentlichen; man will nicht mit der Polizei zu tun bekommen, die zur Beruhigung der oberen Behörden wenigstens die unschuldigen Anzeiger ins Gefängnis wirft, wenn es ihr nicht gelingt, der wirklichen Täter habhaft zu werden.

14. Lügensucht.

Die Lügen der Regierenden

mit dem falschen Eid

Pobjedonoẞzews Lehrmethoden

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Baron

Allgemeinheit der Lügen

Mayerberg über die Lügensucht der Russen haftigkeit Meineid alltäglich Meineid und Aberglaube Das Geschäft Bureau für falsche Zeugen Tarif für Meineide Religion und Lüge Die Taufe des Dichters Bogrow Die Lüge in der Ehe Die Sittengeschichte Kotoschichins Graf Leon Tolstoj Gogolj Äußerungen Schtschedrins und Nikitenkos Sprichwörter über Lüge und Wahrheit Ausländische Urteile über die russische Lügensucht.

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Alles ist auf Lüge aufgebaut und auf Täuschung berechnet. Der Zar täuscht das Volk, und die Minister und Behörden betrügen einander und den Herrscher. Der Kaiser schenkt dem Reiche eine Verfassung und ein Parlament, und denkt nur daran, wie er die Verfassung vernichten und die Volksvertreter verderben könnte. Konstantin Pobjedonoẞzew schrieb ein Buch über russisches Zivilrecht und unterschlug darin alle Rechtsreformen Alexanders II., weil sie seinen Ansichten widersprachen; und in seinem Lehrbuch des Zivilrechtes für Studenten behandelte derselbe Pobjedonoẞzew noch

die Leibeigenschaft, die vor vierzig Jahren abgeschafft worden ist, wie eine fortbestehende Institution.

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,,Die Moskowiter," schrieb vor mehr als zweihundert Jahren der Diplomat Mayerberg1),,,sind von der Wiege an doppelzüngig; in ihren Worten findet man niemals Aufrichtigkeit. Lügen halten sie durch neue Lügen mit solcher Unverschämtheit aufrecht, daß man ihnen gegenüber an der eigenen Wahrhaftigkeit zu zweifeln beginnen muß. Überführt man sie der Lüge, so erröten sie nicht, sondern lächeln bloß."

Die Lüge ist das Gewöhnliche; das Überraschende nur, wenn jemand einmal die Wahrheit sagt oder gar die Lüge zu tadeln wagt. Die Zahl solcher Helden ist verschwindend, niemand hat Lust, sich mit der Allgemeinheit in Widerspruch zu setzen. Die Lüge herrscht nicht stärker in dieser oder jener Provinz, in dieser oder jener Gesellschaftsklasse, sondern überall gleich; sie ist nicht exklusiv, sie ist die wahre Nationaluntugend, die nivellierende Erbsünde. Man lügt nicht um eines Vorteils willen, sondern um zu lügen. Man verspricht nur, um das Versprechen nicht zu halten; man sagt: ja, und denkt sofort: nein.

Der Meineid ist kein Verbrechen.,,Sie glauben nicht / daß es eine Sünde sey/ einen falschen Eyd zum Nachtheil ihres Feindes/und absonderlich eines Römisch-Catholischen / zu thun.") Das angeborene Laster wird vom Aberglauben unterstützt: muß man vor Gericht einen Eid ablegen, so steckt man ein Haar zwischen die Finger, das macht den Eid ungültig. Der Meineid ist eine Institution, das Handeln mit falschen Zeugnissen und falschen Zeugen ein Geschäft wie jedes andere. In einer chauvinistisch-russischen Zeitschrift3) wurde berichtet, daß sich in Lodz eine öffentliche Anstalt für falsche Zeugnisse befinde; ein fester Tarif regelt die Ware: jede Angelegenheit hat ihren Preis, das billigste Zeugnis kostet drei, das teuerste fünfzig Rubel. Aber nicht Lodz allein, jede Stadt hat ihre eigene Institution für Meineid. Ist man in

1) Voyage en Moscovie, 1688. Seite 124 und 161.

2) Religion der Moscowiter. S. 64.

3) Свѣть, 5. февр. 1889.

Verlegenheit, so kann man offen darüber mit seinem Advokaten reden, und will dieser nichts davon wissen, so verhilft die Polizei selbst zu einem zuverlässigen falschen Zeugen:,,Für ein wenig Wodka kann man soviel Zeugen haben als man braucht," sagt Fürst Meschtscherski1),,,man rufe sie, wohin man wolle, und sie kommen; man sage ihnen, was sie beschwören sollen, und sie beschwören es."

Ist nicht die Orthodoxie selbst eine große Lüge? Viele Millionen, welche die Kirchen besuchen, sind dem rechten Glauben längst untreu geworden und zurückgekehrt in den Schoß des Heidentums oder Anhänger barbarischer Sekten geworden. Alljährlich treten Zehntausende Juden, Katholiken, Protestanten zur Orthodoxie über; unter ihnen ist kein einziger Proselyt aus Überzeugung, jeder von den Bekehrten hat nichts anderes im Sinne als sich mit Hilfe dieser großen religiösen Lüge vor Verfolgungen zu retten oder Karriere zu machen. Der Dichter Bogrow trat vom Judentum zur Orthodoxie über, um das Recht des Aufenthaltes in Petersburg zu erwerben, das ihm Pobjedonoẞzew um diesen Preis zugesagt hatte; am Tage nach der Taufe aber wurde Bogrow aus der Hauptstadt ausgewiesen, weil die Orthodoxie ihm eine fünfjährige Probezeit vorschrieb, während der er seine aufrichtige Rechtgläubigkeit erweisen sollte.

Der Lüge in der Religion ist die Lüge in der Ehe würdig. Kotoschichin hat die sexuelle Lüge des siebzehnten Jahrhunderts in seiner eigenartigen Schrift,,Über Rußland unter der Regierung des Zaren Alexej Michailowitsch" in naiver einfacher Weise beschrieben; ein Sohn des alten Rußland, hat er die innere Fäulnis im russischen Leben und Staat der vorpeterschen Epoche, die furchtbare Gewalt der Lüge, die damals alle Stände verwüstete und alle Lebenslagen umlauerte, geschildert 2); und zweihundert Jahre später hat der große Leon Tolstoj dasselbe Thema angeschlagen und gezeigt, daß Rußland sich nicht ändert. Und wie haben Gogolj in seinem ,,Revisor" oder in den ,,Toten Seelen" und der moderne Sa

1) Im Гражданинъ, 15. апр. 1889.

2) Alexander von Reinholdt, Geschichte der russischen Literatur, S. 227.

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tiriker Saltykow-Schtschedrin in seinen ,,Gouvernements-Skizzen"), in seinen ,,Zeichen der Zeit und Briefen aus der Provinz" die russische Lügensucht gegeißelt; keine Literatur der Welt kennt eine solche Lügengestalt wie den Schtschedrinschen Porfirij Petrowitsch, und kein Schriftsteller der alten oder neuen Zeit, der alten oder neuen Welt hat in bezug auf die eigene Nation das furchtbare Geständnis gemacht wie derselbe Schtschedrin:,,Seit undenklichen Zeiten," schrieb er,,,hat man beobachtet, daß der echte Russe stets zu einer Lüge bereit ist. Es ist historisch erwiesen, daß schon in alten Zeiten die von einem Russen gemachten Angaben niemals ernst genommen wurden.“ Ähnlich klagte Professor Nikitenko2): „Die Lüge ist der Götze unserer Gesellschaft; die russische Gesellschaft lügt in jeder Minute ihres Daseins, in Wort und Tat, bewußt und unbewußt."

Und die russischen Sprichwörter endlich sagen: Das Lügen begann mit der Welt und wird erst mit der Welt sterben. Die Wahrheit ist heilig, aber wir sind sündig. Die heilige Wahrheit ist gut, aber nicht für sterbliche Menschen. Die Wahrheit taugt nicht für die Praxis, man soll sie in einen gläsernen Heiligenschrein stellen und anbeten. Trauere nicht um die Wahrheit, sondern suche dich gut zu stellen mit der Falschheit. Von der Falschheit lebt der Mensch. Die Falschheit ist nicht das Kraut, woran man stirbt. Lügen ist nicht wie Teig kauen, man erstickt nicht daran. Eine schmackhafte Lüge ist besser als eine bittere Wahrheit. Der Roggen schmückt das Feld, die Lüge die Sprache.

Nicht anders als die Russen selbst denken die Ausländer. ,,In der Handlung," sagte ein Reisender vor zweihundert Jahren3),,,machen sich die Moscowiter kein Gewissen grausame Schwüre zu thun/ jemehr sie aber schwören / je thun/jemehr weniger glauben ihnen die Teutschen.“ Der Engländer Perry 1) klagte ununterbrochen über die Perfidie der Russen. Als Peter der Große Europa von der Kultivierung Rußlands über

1) Deutsch unter dem Titel,,Aus dem Volksleben Rußlands".

2) "Русская старина", 1890.

3) Religion der Moscowiter, anno 1712. S. 65.

4) Etat present de la Grande-Russie, 1717.

zeugen wollte, erklärte ,,Die europäische Fama", daß man ,,den moscowitischen Avisen nicht glauben darff."1) Custine schrieb):,,Les Russes sont encore persuadés de l'efficacité du mensonge." Und der Engländer Lanin endlich fällte das folgende Urteil3):,,Der Wahrheitsliebe sind die Russen hoffnungslos bar. Sie thun es, man kann das ohne Übertreibung sagen, den alten Kretensern in dieser Beziehung zuvor und beschämen die heutigen Perser.“

15. Diebstahl.

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Vergleich zwischen Lügensucht und Stehlsucht Die Freiheit des Wortes Der Diebstahl im Sprichwort Ein Ausspruch Alexanders II. über die Stehl

sucht der Russen

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Mentschikows Gaunereien und Ansichten

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Katharinas Günstling Soritsch als Banknotenfälscher Kanzler Bestuschew als Wechselfälscher Hoch- und höchstgeborene Diebe Der Grundsatz der Polizei — Allgemeinheit des Stehlens Vergleich der Russen mit den Spartanern Stehlsucht und Treue des gemeinen Russen — Gesetze gegen den Diebstahl Todesstrafen Leibesstrafen Peters ABC der zehn Gebote Die Gebote des Chlystygottes Daniel Filipowitsch - Das Märchen vom Recht und Unrecht Der Diebstahl bei den Tscherkessen und Osseten Bei den Kalmücken und Kamtschadalen - Was die Russen am liebsten stehlen Angst vor Versiegeltem Diebstahl und Aberglaube - Den Dieben günstige Nächte -- Diebstahl, Aberglaube und Verbrechen - Die Totenhand als Diebstalisman - Menschenfett für Diebslichter Mordtaten zur Gewinnung von Menschenfett Entdeckung der Diebe durch Hexerei.

Wenn man von den Russen gesagt hat4): sie seien sich beim Lügen keines Unrechts bewußt, denn sie leiden an völliger Anästhesie in bezug auf jenes sittliche Gefühl, das andere Völker so empfindlich gegen die Lüge macht - so kann man diesen Anspruch nicht auch auf ihren Hang zum Stehlen anwenden. Die Lügensucht ist bei ihnen Naturanlage, die durch Erziehung und das Beispiel der Regierenden verstärkt

1) Vgl. Seite 35.

2) a. a. O. II 320.

3) Russische Zustände I 48.

4) Lanin, a. a. O. I 54.

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