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die meisten venerischen Erkrankungen; und schließlich sind die meisten außerehelichen Geburten ebenfalls auf die Epoche der stärksten Saufwut zurückzuführen.

Seit jeher hat man in Rußland den Geschlechtsakt mit der Saufwut zu verbinden sich bemüht. In den Hochzeitsnächten gab es Orgien ohnegleichen. Es war eine alte löbliche Site, den Bräutigam so volltrunken zu machen, daß ihm die Kraft fehlte, in der ersten Nacht seine junge Gattenpflicht zu erfüllen. Peter der Große veranstaltete solche Trinkgelage mit besonderer Vorliebe. Als der Sohn seines Günstlings Schafirow sich vermählte, ließ er dem Bräutigam so heftig zusetzen, daß man ihn schon dem Tode verfallen glaubte. Nachdem man ihn mit Mühe und Not wieder zum Leben zurückgerufen hatte, legte man ihn zur Braut und entfernte sich mit dem freudigen Bewußtsein,,,daß die junge Frau für die erste Nacht wohl wenig Gutes von ihm zu erwarten hätte. Am folgenden Morgen," erzählt Bergholz in seinem Tagebuch1),,,sagten ihm seine Freunde, alle hätten die Braut sehr beklagt, weil sie ebensosehr würde von ihm aufgestanden sein, wie sie sich bei ihm niedergelegt." Der junge Schafirow aber erwiderte: ,,Ey, ey, ihr Narren, ich habe sie elfmal geküsset und umgewendet." Man erzählte dies dem Zaren, der es nicht glauben wollte, und er ging, wie unser Gewährsmann berichtet,,,die junge Frau selbst auszuholen; glaubte es endlich, als diese die Versicherung des jungen Ehemannes bestätigte.“

Nicht so gut wie dem jungen Schafirow erging es um dieselbe Zeit dem Herzog von Kurland, der sich mit Peters Nichte, der späteren Zarin Anna Iwanowna vermählte; er trank in der Hochzeitsnacht so viel, daß man der Braut eine Leiche ins Hochzeitsbett legen mußte. Die Erinnerung an dieses Ereignis wirkte so nachhaltig auf die Witwe, die niemals Gattin gewesen, daß sie als Kaiserin an ihrem Hofe keinen Branntwein duldete. Bei ihren Festen ließ sie nur französische Weine aufstellen. So wurde jener tragische Vorfall gewissermaßen Anlaß zur Verfeinerung wenigstens des höfischen Trinkergeschmackes.

1) Bei Büsching XIX 66.

Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Rußland.

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wesen.

Im alten Rußland war die Auswahl der Weine gering geAus dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts gibt es eine authentische Liste der in Rußland gebrauchten Weinsorten. Im Jahre 1597 schickte nämlich der Zar aus dem Hofkeller ein Geschenk für den neu angekommenen österreichischen Gesandten, bestehend in: Romanée, Rheinwein, Muskateller, weißem Franzwein, Baster, Alikante, Malvasier, Meth, Kirschmeth, Johannisbeerwein, Wacholderwein, Schlehenwein, Himbeerwein, Bojarenwein und Fürstenwein.1) Romanée war Burgunderwein, von deutschen Kaufleuten eingeführt; Baster, deutsch Bastardwein genannt, ein Kanarienwein. Peter der Große bewirtete seine Gäste bloß mit Prostaja wodka, ordinärem Branntwein, Kornbranntwein 2) und Ungarweinen, namentlich Tokajer; französische und Rheinweine liebte er nicht.3) Als die Ärzte ihm die starken Spirituosen verboten, bequemte er sich indessen dazu, in den Kornbranntwein etwas Medoc und Cahors zu mischen.4) Auch an den Tafeln der russischen Großen brachte man früher die Toaste nur mit Ungarwein aus. Erst unter Anna Iwanowna änderte sich dies. Französische Weine wurden obligat, Burgunder und Champagner kamen in Massen nach Rußland. Den Champagner hat der französische Gesandte Marquis de la Chetardie in eigener Person importiert; er brachte in seiner diplomatischen Bagage nicht weniger als 16800 Flaschen mit.5)

Es zeigt sich glücklicherweise, daß man auch mit französischen Weinen Orgien feiern kann. Bei einem Feste, das am Jahrestage der Thronbesteigung Annas im Moskauer Zarenpalaste gegeben wird, geht es zu wie in den guten alten Zeiten der Herrschaft des Branntweins am Hofe Peters: die höchsten Würdenträger, Militärs, Geistlichen und die vornehmsten Damen betrinken sich bis zur Bewußtlosigkeit;,,es wäre herrlich gewesen," berichtet Ssaltykow als Teilnehmer,,, ,,wenn nicht ein General sich geweigert hätte mitzutrinken;" dieser bringt

1) Karamsin, deutsch IX 309, französisch X 365.
2) Waliszewski, L'héritage de Pierre le Grand, 273.
3) Bergholz bei Büsching XIX 94.

4) Waliszewski, Pierre le Grand, 209.

5) Waliszewski, Autour d'un trône, 34.

eine Störung in das harmonische Bild, der Gouverneur versucht vergebens ihn zu überreden durch den Hinweis, daß es Pflicht eines patriotischen Russen sei, auf die Gesundheit der Zarin zu trinken; es bleibt nichts übrig, als den einzigen Nüchternen aus der Gesellschaft hinauszuwerfen.

Die russischen Frauen jener Epoche, welche den Branntwein zeitweilig wenigstens von den Tafeln der Vornehmen verbannen mußten, gaben ihm ein Asyl in ihren Toiletten. Sie wuschen sich zur Verschönerung des Teints mit einer Lösung von Kampescheholz in Branntwein und tranken heimlich, was nach der Operation übrig blieb.1) Von den vornehmen Frauen nahmen die Weiber des Volkes den Modus an, Koketterie und Trunksucht zu vereinigen; und es war nichts Seltenes, daß man auf den Straßen von Mädchen und Frauen um,,ein paar Kopeken für Schönheitswasser" angebettelt wurde. Odeure und andere mit Spiritus bereitete duftende Essenzen treten auch heute, besonders im ostasiatischen Rußland, wenn dort die Getränkevorräte zur Neige gehen, an die Stelle von Schnäpsen. In Ochotsk war im Winter 1902 der Schnaps ausgegangen; da stellten die Wirte in den Restaurants englische Odeure, das Fläschchen zu vier Rubel, auf die Speisekarte. Und so tief und unbezähmbar nistet die Trunksucht im Russen, daß eine der Intelligenz angehörige Person selbst von diesem Surrogat zweiundzwanzig Flacons austrank, infolgedessen erkrankte und starb. 2)

1) Vgl. die Mitteilungen des dänischen Reisenden Peter von Haven, bei Büsching X 281.

· Vgl. Lodzer Zeitung vom 29. XI.

2) „Дальн. вѣстникъ", 1902. XII. 1902, Korrespondenz aus Ochotsk.

=

12.

18. Das Bettelwesen.

Bettler im alten Rußland

Almosenspender

und Schuldner

Maßregeln Peters des Großen gegen Bettler und Wohltätigkeitsakte der Zarin Katharina I. Gläubiger

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Die Sklaverei der Insolventen Regierungsmethode billiger Ernährung der Gefangenen Charakter der russischen Bettler Ihre BeModerne Bettlerorganisation

scheidenheit

Ihr Sprüchlein

Sammler von frommen Spenden Die Kubraki von Mstislaw Die Lodyry oder Entstehung von Bettlerzünften Die Abbrändler Schuwaliki Krüppelfabriksorte Rostow und Hauptziele der Bettler Bettelwesen und Unsittlichkeit Lasterhöhlen in Charjkow und Riga tistisches Freiwillige und unfreiwillige Bettler.

Labory
und Sachodnizi
Sudogda

-

Gusljaki — Krüppel

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Schamlosigkeit in den Asylen

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Sta

Eine selbstverständliche Folge der Ehrlosigkeit, Lügensucht, Stehlsucht, des Sportelnehmens, der Korruption und der Trunksucht ist das Bettelwesen. Betteln ist keine Schande, sagt man in Rußland. Es ist dabei keine Rede von denen, die aus Not betteln, sondern von jenen Organisierten, die den Müßiggang zu einer lobenswerten Tugend erheben, auf die Leichtgläubigkeit ihrer Mitmenschen spekulieren und aus der Mildtätigkeit der anderen Kapital für sich schlagen. Als Bettler ziehen sie durch die Lande; als Reiche kehren sie heim, um zu verprassen, was sie erobert haben. Das Bettelwesen, das hier geschildert wird, ist nicht aus dem Elend entsprungen, nicht eine Begleiterscheinung der ewigen Hungersnot, welche Rußland seit der Begründung des Reiches fast alljährlich, bald in diesem, bald in jenem Gouvernement heimsucht; sondern ein Laster, das auf diesem Boden der Lüge und Fäulnis noch besser in den Jahren der Fülle und des Reichtums gedeiht, als in den mageren Zeiten.

Der Engländer Fletcher berichtete, daß schon im sechzehnten Jahrhundert die Bettler in Rußland eine wahre Landplage waren.1) In Moskau wurde man auf Schritt und Tritt von Landstreichern um Almosen angefleht. Die des Tages bettelten, gingen nachts auf Raub und Diebstahl aus. Zu Zeiten

1) Fletcher, Of the Russe Common-Wealth, London 1591. Karamsin, deutsch IX 315, französisch X 375.

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