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sinn oder bei vorübergehender Geistesstörung) tötet, wird als eine Person betrachtet, die nicht befugt war, Verfügungen für den Todesfall zu treffen. Demnach bleibt das Testament des Selbstmörders, als nichtig, ohne Vollziehung; ebenso jede andere, von ihm für den Fall seines Ablebens gemachte Anordnung, sie betreffe seine Kinder, Pflegebefohlenen, Diener, sein Vermögen oder sonst irgend einen Gegenstand. Dem Selbstmörder ist die christliche Bestattung versagt. Wer bei gesundem Verstande einen Selbstmord versucht, und daran nur durch äußere Umstände verhindert wird, muß sich, falls er den christlichen Glauben bekennt, einer Kirchenbuße unterziehen. Diese Bestimmungen finden keine Anwendung auf den, der sich aus Vaterlandsliebe oder Pflichttreue einer Lebensgefahr aussetzt oder dem Tode opfert; ebensowenig gegen die weibliche Person, die sich tötet oder zu töten versucht, um ihre Keuschheit und Ehre gegen einen nicht anders abzuwehrenden Angriff zu schützen. Wer einen andern zum Selbstmorde beredet, ihm dazu Mittel verschafft oder dazu sonst auf irgend eine Weise mitwirkt, wird als Begünstiger eines mit Vorbedacht verübten Mordes bestraft. Eltern, Vormünder und andere Vorgesetzte, welche durch grausamen Mißbrauch ihrer Gewalt eine ihnen untergebene Person zum Selbstmorde verleiten, werden mit Entziehung der Ehren- und Standesrechte auf ein bis zwei Jahre Besserungshaus verurteilt und müssen sich, falls sie den christlichen Glauben bekennen, einer Kirchenbuße unterziehen." Bis in die neueste Zeit bestand der Artikel, der dem Selbstmörder das christliche Begräbnis versagte; dieser Artikel wurde in den Entwurf des neuen Strafgesetzbuches, das sich in Vorbereitung befindet, nicht aufgenommen, aber in der Verordnung für die Ärzte aus dem Jahre 1892 ist stehen geblieben: daß der Körper eines vorsätzlichen Selbstmörders vom Schinder an einen ehrlosen Ort zu schleppen und dort zu verscharren sei.

Solche Bestimmungen, ob sie nun befolgt werden oder nicht, lassen dem Volke den Selbstmord nicht nur als etwas Schändliches und Ehrloses erscheinen, sondern haben auch den Aberglauben bestärkt, der seit jeher und fast überall mit dem Selbstmord im Zusammenhang steht. Die an einem ehr

losen Orte verscharrten Leichen können nach russischem Glauben keine Ruhe finden, schweifen als Geister und Vampyre umher, sind schuld an Dürre, Hungersnot und Seuche1): Im Jahre 1887 erhängte sich im Dorfe Iwanowka im Alexandrijschen Kreise des Gouvernements Cherson ein Bauer. Kurz darauf entstand anhaltende Trockenheit. Natürlich war der Selbstmörder schuld. Die Bauern pilgerten zu seinem Grabe, gruben die Leiche aus, besprengten sie mit Wasser und sprachen: „Ich besprenge, ich besprenge; Gott gebe einen Platzregen; führ' ein Regenchen herbei und befreie uns vom Unglück." Als dies Mittel nicht geholfen hatte, wurde die Leiche abermals ausgegraben und möglichst weit weg vom Dorfe entfernt, damit der Verstorbene den Weg nicht zurückfinde. 1872 wurde aus ähnlichen Gründen im Kamenezschen Kreise des Gouvernements Podolien die Leiche eines Mannes, der sich erhängt hatte, ausgegraben und in den Teich geworfen; 1883 im Dorfe Begitowskij, im Gouvernement Stawropol, die Leiche eines Mannes, der im Wahnsinn einen Selbstmord begangen hatte, aus dem Grabe gerissen und verbrannt. Das Merkwürdigste ereignete sich 1892 im Dorfe Ssomenitschki des Kreises Ponewjesch im Gouvernement Kowno: Eine Bäuerin hatte sich im Walde erhängt. Sie war Katholikin. Der katholische Geistliche weigerte sich, die Selbstmörderin beerdigen zu lassen, und lehnte es ab, Geld für ein Trauergeläute anzunehmen: ,,ihre Seele ist dem Teufel verfallen," sagte er. Das Entsetzen der Söhne der Selbstmörderin war groß; und ihre Furcht davor, daß die teuflische Mutter keine Ruhe im Grabe finden und daher umherwandern würde, um der Familie und dem Dorfe Schaden zu bringen, steigerte sich schließlich derartig, daß sie es für das beste hielten, der Leiche der Mutter den Kopf abzuhacken; die zerstückelte Leiche scharrten sie dann so ein, daß der Kopf bei den Füßen lag. Jetzt waren sie sicher, daß die Selbstmörderin aus dem Grabe nicht mehr hervorkommen könnte.

1) Löwenstimm, Aberglaube und Strafrecht, S. 105.

27. Feuer, Hunger und Pestilenz.

Feuersbrunst und Zauberei

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Brandplage

Feuer

Hunger

Verheim

Hinrichtung Glinskijs wegen zauberischer Brandstiftung - Gründung eines Schornsteinfegerkorps wächter Strafen für Brandstifter Geschichte der Hungersnöte und Hexerei Weiberleiber als Getreidespeicher Hungertragödien in alten Zeiten Ein Ausspruch des Zaren Boriß Wohltat ein Übel lichung des Elends vor Fremden Nikolaj I. haßt das Wort Hunger - Kannibalismus in Hungerzeiten Beispiele aus Rußland und den Ostseeprovinzen - Iwan der Schreckliche liebt Verhungernde zu sehen fresser, Strafe für Kalbfleischesser

brechen der Regierung

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Gnade für Menschen

Die Hungersnot der Gegenwart - VerDer Aberglaube als Regierungsstütze

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Geschichte

der Epidemien Glaube an Pestdämone Hexenmorde Wasserweihe Die Pest in Moskau 1654 und 1771

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Nur der fatalistische Glaube und der träge Charakter des Russen können es erklären, daß in diesem Reiche der Selbstmord nicht eine Volkskrankheit geworden ist. Denn die Leiden Rußlands seit seinem Bestande sind so namenlos und so ununterbrochen, daß dort das Leben kaum mehr lebenswert erscheint. Schon die Elemente der Natur haben alles aufgeboten, um den Riesenstaat zu einer Stätte ewiger Not zu machen. Feuer, Hunger und Pest gehören zu den ständigen Institutionen. In früheren Zeiten hat man es nicht einmal der Mühe wertgehalten, diese natürlichen Plagen zu bekämpfen oder ihnen vorzubeugen. Das Schicksal führte sie herbei oder die Zauberei verursachte sie Menschenmacht konnte sie also nicht verhindern, noch weniger beendigen; man wartete ergeben, bis der Kelch vorüberging.

Unter Wladimir Monomach zerstörte eine große Feuersbrunst Kijew; gleichzeitig trat eine vollständige Sonnenfinsternis ein, man sah in der Mittagsstunde Sterne am Himmel, und schließlich vernichteten Erdbeben und Orkane ganze Landstriche, Menschenmassen und Viehherden wurden von den empörten Elementen in die Flüsse geschleudert. 1185 und 1190 wurde die Stadt Wladimir durch ein Feuer vollständig verödet; Schätze an Edelmetallen, die in den Kirchen aufgespeichert waren, die kostbarsten Meßgewänder und seltene

Stern, Geschichte der öffentl. Sittlichkeit in Rußland.

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Bücher fielen den Flammen zum Opfer. In denselben Jahren verwüsteten Brände die Städte Rostow, Ladoga, Russa und Nowgorod; in letzterer Stadt brannten an einem Tage 4300 Häuser, darunter viele steinerne, nieder. Von 1420 bis 1450 wüteten, namentlich in Moskau und Nowgorod, furchtbare Feuersbrünste. Auf dem flachen Lande herrschte Trockenheit. Die Erde entzündete sich vor Hitze," schreiben die Annalisten,,,sodaß die Menschen in den dicken Rauchwolken einander nicht sehen konnten; nach dieser Zeit sind, wie einst. nach der Sündflut, die Lebensalter kürzer und die Menschen hinfälliger und schwächer geworden." Für die Feuersbrünste, die 1507 in Nowgorod allein 5314 Menschenleben forderten und im selben Jahre Moskau und Pskow verheerten, machten die Chronisten die Einführung der teuflischen Pulvermühlen verantwortlich, in denen man geheime Zauberkräfte vermutete. Als im Jahre 1547 in Moskau ein Riesenbrand die halbe Stadt verzehrte, erhob sich niemand, um dem Feuer Einhalt zu tun, sondern alles forschte nur nach den Urhebern der Zauberei, die den Brand hervorgerufen haben mußte. Die Familie Glinskij, die für den jugendlichen Zaren Iwan die Regentschaft führte, wurde endlich der Zauberei verdächtigt, und das Haupt dieser Familie fiel als Opfer des Aberglaubens, dessen sich, wie so oft in Rußland, die Politik bedient hatte.

Bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts gab es nicht einmal eine Feuerwehr. 1736 verheerte ein neuer großer Brand Moskau; 2527 größere und 9145 kleinere Bauten, mehr als hundert Kirchen und ein Dutzend Klöster wurden ein Raub der Flammen. Nun zum ersten Male raffte man sich auf, den Feuersgefahren systematisch zu begegnen. 1737 befahl die Zarin Anna die Gründung eines Schornsteinfegerkorps. Patrouillen mußten Tag und Nacht die Straßen der Hauptstadt durchziehen, um das Brandlegen zu verhüten oder ausgebrochenes Feuer im Keime zu ersticken. Man begnügte sich nicht mehr mit der Lynchjustiz des Aberglaubens, sondern schuf strenge Gesetze, um die Brandstifter abzuschrecken. Wer einen Brand legt, befahl die Kaiserin, soll für das Feuer im Feuer büßen, lebendig verbrannt werden. Aber wieder echt russisch ist es, daß man nicht bloß die Verbrecher bestraft,

sondern auch jene, die von dem Verbrechen bloß sprechen; daß also schon für die Erwähnung eines stattgehabten Brandes die Knutenstrafe droht!

Nächst dem Feuer ist es der Hunger, der ununterbrochen Rußland heimsucht. Die erste große Hungersnot entstand neun Jahre nach dem Tode des vielbesungenen Fürsten Wladimir, des ersten christlichen Herrschers. Die Zauberer erklärten das Unheil als Folge des Verrats an den alten Göttern und hetzten das Volk, durch Opferung von Christen den Himmel zu versöhnen. Wie bei den furchtbaren Bränden, so feiert auch in Zeiten der Hungersnot der Aberglaube seine Triumphe. Der älteste slawische Chronist, Nestor, berichtet über die Hungersnot des Jahres 1070, daß damals Zauberer die Wolga entlang zogen und in den Dörfern erklärten: die Weiber hätten die Hungersnot verursacht und alles Getreide in ihren Leibern aufgespeichert. Man schleppte die Frauen und Töchter zu den Hexenmeistern, welche die Weiber massakrierten, und richtig kam mit dem Blute der Opfer Getreide zum Vorschein, das die Zauberer geschickt im Momente der Opferung verschüttet hatten. Das hungrige Volk stürzte sich auf die Frauen, um sich zu sättigen. Der Vater zerfleischte die Tochter, der Sohn die Mutter, und die Mörder tranken gierig das Blut der Weiber, in dem sie Getreide, Honig und Fische zu genießen wähnten.

Jahr um Jahr herrscht partielle Hungersnot, bald in diesem, bald in jenem Landstrich. Eine allgemeine Hungersnot wütet im Durchschnitt in jedem Jahrzehnt mindestens einmal. Am stärksten geplagt erscheint das Gebiet von Nowgorod. 1215 trat hier eine Mißernte ein zur Zeit, da die Stadt vom Feinde belagert wurde. Die Teuerung war so erbarmungslos, daß die Bewohner ihre Kinder, um sie nicht ernähren zu müssen, an die Gosty oder Kaufleute verschenkten. Die Leichen der Verhungerten lagen in den Straßen und wurden von den Hunden verzehrt. Das Elend dauerte fünfzehn Jahre und zog auch die benachbarten Provinzen in Mitleidenschaft. Im Jahre 1230 erreichte es seinen Höhepunkt. Erdbeben und totale Sonnenfinsternis steigerten das Entsetzen.,,Man erwartete das Ende der Welt, man umarmte sich und nahm Abschied voneinander," erzählen die Chronisten. 6530,,Hungergräber" wurden mit

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